▸ In einer idealen Welt passiert ein vermeidbarer Unfall nur einmal. Er wird analysiert, eine Vermeidungsstrategie entwickelt, an die Verantwortlichen kommuniziert und umgesetzt. Wie sieht die Realität in der Seilgartenbranche aus? Ein Beispiel aus den letzten Jahren: Ein abgestorbener Baum in einem Seilgarten bricht während des Betriebes ab, wie durch ein Wunder bleiben drei Teilnehmer in der Luft hängen, niemand wird vom hundert Kilo schweren Baumstück erschlagen. Ein typischer Beinaheunfall. 

In der Seilgartenbranche blieb der oben beschriebene Unfall allerdings weitgehend unbeachtet. Wen wundert es, dass genau das gleiche Muster innerhalb weniger Jahre vier Mal passierte? Nur, dass es nicht immer verletzungsfrei ausging.

Dass sich diese Art Unfall wiederholt, ist relativ leicht zu vermeiden. Die Ursachen sind bekannt, die Gegenmaßnahmen ebenso. Aber zu wenige erfahren davon.

Wir leben in einer Zeit, in der die Technik es ermöglicht, dass über hundert Millionen User im Sekundenbruchteil erfahren, wenn sich eine der Kardashians den Fuß verknackst. Wieso verbreiten sich in unserer Branche wirklich wichtige Informationen hingegen so träge?

Dieser Artikel ist ein Plädoyer für eine Veränderung. Ein Aufruf Unfälle, vor allem aber Beinahe-Unfälle, ernster zu nehmen und Konsequenzen zu ziehen, bevor die Katastrophe eintritt.

2020 wurden in Seilgärten nur wenige Unfälle registriert.

Können wir uns angesichts dieser guten Nachricht zurücklehnen? Ich fürchte nein.

Wir haben eine enorme Dunkelziffer: Es passieren wesentlich mehr Unfälle als bekannt werden. Das hört man aber nur, wenn man mit den Betreibern ein Vertrauensverhältnis hat. Dann erzählen sie:

„Wir haben keine Unfälle. Es ist zwar ein paar Mal der Krankenwagen da gewesen, aber es hat sonst keine Probleme gegeben.“

„Wir haben keine Unfälle. Voriges Jahr war der Rettungshubschrauber da, aber das hat keine juristischen Folgen gehabt.“

„Naja, einen Beinbruch hatten wir, aber Unfälle hatten wir keine.“

Bei vielen Betreibern ist das Bewusstsein, was als Unfall gilt und wie schnell ein Beinaheunfall zum Unfall werden kann, nicht sehr ausgeprägt. Zusätzlich gibt es in der Branche eine sehr niedrige Bereitschaft, Unfallmeldungen abzugeben und gemeinsam auszuwerten.

Viele Unfälle kommen nicht ans Tageslicht, weil die Unfallopfer auf Grund der Haftungsverzichtserklärungen glauben, dass sie selbst schuld seien. Schließlich haben sie das unterschrieben. Wenn ihnen niemand  sagt, dass dieser Haftungsverzicht ungültig ist, dann wird die Verletzung, von der Öffentlichkeit unbemerkt, als Sportunfall auskuriert.

Manche Unfälle werden sogar vertuscht und die Opfer einfach ausbezahlt. So etwas erfährt man dann nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit.

Wir haben kein Sammelsystem für Unfälle und damit auch keine Unfallstatistik.

Das hat gravierende Nachteile: die Erfahrungswerte werden wenig genutzt und wir haben nichts Überzeugendes, um in der Öffentlichkeit zu belegen, wie wenige Unfälle passieren.

Vor allem sehe ich aber ein ethisches Problem: der gleiche Unfall passiert öfter.

… aber sind nicht tödliche Unfälle in Seilgärten selten?

Schätzungsweise ein Toter pro Jahr. Weltweit.

Das ist nicht viel.

Dass es in unserer Branche sehr wenige Tote gibt, ist aber nicht unbedingt dem funktionierenden Unfallverhinderungssystem geschuldet. Wir verdanken es vielmehr der Tatsache, dass wir uns in einer Höhe und einer Geschwindigkeit bewegen, bei der man bei einem Unfall in der Regel nicht stirbt. Es gibt aus der Forensik und den Sportwissenschaften Erkenntnisse, dass Stürze aus bis zu zehn Metern Höhe in der Regel glimpflich ausgehen, also nicht zum Tode oder zu bleibenden Schäden führen. Bei dämpfendem Boden bleiben sie oft folgenlos. Auch sind die meisten Ziplines eher langsam, so dass die Anprallgeschwindigkeiten einem Absturz aus bis zu zehn Metern Höhe entsprechen.

Allerdings: Ich beobachte immer schnellere und längere Ziplines, immer spektakulärere Übungen, um den Teilnehmern etwas bieten zu können.

Eine Quelle für schwere Unfälle war in den Anfängen der Branche die Komplettaushängung. Hier war es die Industrie, die das Problem der Abstürze auf Grund von Komplettaushängung erkannte und gute Lösungen präsentierte. Diese Unfälle sind weitgehend verschwunden.

Aktuell haben wir eine Häufung von Unfällen in bestimmten Bereichen. Eine solche Unfallhäufung ist eine tickende Zeitbombe: Es gibt einen Punkt, ab dem der Staat oder die Versicherungen tätig werden, wenn die Branche es nicht selbst in den Griff bekommt. Diese hoheitlichen Maßnahmen sind dann oft nicht wirklich praktikabel, zumeist sind es radikale Verbote.

Ich sehe die folgenden vier tickenden Zeitbomben:

  1. Allen voran Ziplines: Hier haben wir unzählige Unfälle und seit 2012 mindestens acht Tote.
  2. Verrottung von Holzbauteilen, Umkippen von abgestorbenen Bäumen (vier konkrete Unfälle mit Personenabsturz in den letzten Jahren)
  3. Materialversagen durch Dauerbelastung (zumindest ein tödlicher Unfall)
  4. Strangulation: Wir haben einen Toten sowie eine ganze Reihe von beinahe tödlichen Strangulationen.
Verletzungsgefahr bei Seilrutschen

Problemfeld 1: Zip Lines

Die Unfallursachen für die Zipline-Toten sind:

  • Kollision mit anderen Personen (Frühstart)
  • Materialversagen (Stahlseil, Seilendverbindung oder PSA)
  • Anprall gegen seitliche Hindernisse oder das Ziel

Für diese Ursachen gibt es auch bereits Lösungen:

  • Systeme, die Frühstart verhindern oder unwahrscheinlich machen
  • Baustandards einhalten
  • Notfallbremsen einbauen
  • Ab einer bestimmten Länge Rücklaufsperre (Rolle oder auf Zipline montiert)
  • Bewusstmachen, dass je nach Länge der Zipline die Unfallgefahr in Quantensprüngen steigt: Bis 20 m benötigt man wenig Fachwissen, ab 40 m steigen die Anforderungen, ab 100 m wird es extrem. Ziplines ab 200 m Länge sind nichts mehr für den Durchschnittskonstrukteur, da gibt es nur wenige Spezialisten, die die Gefahren im Griff haben.

Problemfeld 2: Verrottung

Abgestorbene Bäume und verrottete Masten bergen ein hohes Risiko

Es wurden in den letzten Jahren mindestens vier schwere Unfälle auf Grund von komplett verrotteten tragenden Teilen bekannt:

  • Masten verrottet, Seilgarten zusammengestürzt
  • Abgestorbene Bäume im Betrieb umgerissen

Auch hier gibt es altbekannte Lösungen sowie eine Sicherheitswarnung der SISKA.

  1. Abgestorbene Bäume kappen und abspannen, so dass alle Kräfte abgeleitet werden
  2. Auf Verrottung prüfen: Der Klopftest ist durchaus aussagekräftig, aber nicht überall durchführbar (z. B. unter Plattformen, wo es besonders wichtig ist)
  3. Bohrwiderstandsmessungen (unter Plattformen und im Boden)
  4. Belastungstests

1. und 2. sind einfach durchzuführen, für 3. und 4. muss man sich extra sachkundig machen und benötigt eine Zusatzausrüstung.

Problemfeld 3: Versagen von tragenden Teilen durchDauerbelastung

Ein Spezialfall ist die Knickbelastung von Stahlseilen, siehe Oben #021

Das Thema der Dauerfestigkeit wurde in der Seilgartenbranche bisher zu wenig beachtet. Es gab bereits Unfälle. Einer verlief tödlich. Es ist zu befürchten, dass hier Gefahren schlummern.

Grundsätzlich entstehen solche Haarrisse nicht über Nacht und sind, wenn man genau schaut, auch sichtbar. Man muss allerdings wissen, wo die kritischen Stellen sind und in welchen Abständen (Teilnehmerzahl) man inspizieren muss. Dies muss von Herstellern (Instandhaltungsanleitung) und Erstinspekteuren festgelegt werden.

Problemfeld 4: Strangulation

Es gibt einen tödlichen Unfall und einige beinahe tödlichen Strangulationen durch y-förmige Verbindungsmittel. Das ist deswegen tragisch, weil die Ursache seit langem bekannt ist. Zudem wird auch im ERCA-Standard gefordert, keine zwei gleich langen Verbindungsmittel zu bauen, denn diese bilden eine perfekte Fangstelle für den Helm.

Die Hersteller haben reagiert und ihre Verbindungsmittel konstruktiv verändert.

Ob dieses Problem vom Tisch ist, wird sich zeigen.

Es gibt aber weitere Fangstellen für Helme: So erstickte eine Person beinahe, weil sie sich beim Ablassen über eine Kletterwand drehte und sich ein Griff der Kletterwand hinten im Helm verfing.

Hier ist die Diskussion noch nicht abgeschlossen: Sind Helme auf Seilgärten sinnvoll oder nicht? Jedenfalls müssen Errichter, Betreiber und Inspekteure gut auf die bekannten Kopf-Fangstellen achten.

Vor- statt Nachsorge. Wenn wir kleine Zwischenfälle analysieren, können wir Unfälle vermeiden

Wie ist unsere Branche organisiert, um Unfälle zu vermeiden?

In der Seilgartenbranche sind Unfälle bis zu einem gewissen Maß akzeptiert. Im Gegensatz zum Beispiel zum Arbeitsschutz, wo die Zero-Accident-Philosophie gelebt wird, nach der bei einem Unfall sofort etwas verändert wird, um die Ursache für die Zukunft auszuschalten. Bekannt werden dort Unfälle über die Arbeitnehmerversicherung, die für die Unfallfolgen aufkommt und sehr darum bemüht ist, dass ein Unfall möglichst nur einmal passiert.

Wie ist das in unserer Branche, die dem Freizeitsport zugeordnet ist? Wie werden Unfälle erhoben, Informationen weitergegeben, Lösungen erarbeitet und umgesetzt?

Ein Teil der Betreiber ist mit den Organisationen IAPA, ERCA und SISKA verbunden, ein Teil informiert sich über die Zeitschrift OBEN und oder im Internet, zum Beispiel über die Facebook-Gruppe Sicherheit im Seilgarten. Von einem Teil wissen wir nicht, wie sie sich informieren. Ein anderer Teil will gar nichts wissen.

Die Kommunikation über Unfälle läuft über die IAPA, ERCA, SISKA, OBEN, und Internet-Foren. Von einem Teil der Betreiber wissen wir nicht, wie sie sich informieren. Ein Teil will gar nichts wissen.

Ideal wäre …

  • … wenn jeder Unfall bekannt wird und
  • … analysiert wird.
  • … wenn auf Basis dieser Analyse Maßnahmen erarbeitet werden,
  • … und eine Sicherheitswarnung erstellt wird.
  • … wenn diese Sicherheitswarnung zeitnahe an alle Seilgärten, Errichter und Inspekteure geht
  • … und alle analysieren, ob sie auch betroffen sind und gegebenenfalls die empfohlenen Maßnahmen umsetzen.

Was bereits gut funktioniert: die SISKA ist sehr gut aufgestellt, bekannt gewordene Unfälle zu analysieren und Sicherheitswarnungen und -empfehlungen zu erarbeiten.

Allerdings gibt es einen deutlichen Verdünnungsfaktor: Unfälle werden oft nicht bekannt. Darunter leiden auch Analyse und Maßnahmenentwicklung. Aber auch die gewonnenen Erkenntnisse und Vorbeugemaßnahmen aus bekanntgewordenen Unfällen, kommen bei vielen gar nicht an. Hier gibt es noch Aufholbedarf.

Was kann jede/r Einzelne tun?

Es gibt Möglichkeiten, wie jede/r sofort etwas zum Thema Sicherheit beitragen kann:

  • Betreiber können ihre SOPs checken: Ist das Betriebshandbuch aktuell und vollständig?
  • Das Vieraugenprinzip / Partnercheck sowohl bei Teilnehmern als auch bei Trainern kann Sicherheitslücken reduzieren. (Beispiel: Sind die Teilnehmer beim Einstieg in einen Parcours im Sicherungssystem eingeloggt?)
  • Vernetzen mit anderen
  • Informieren (IAPA, Facebook,…), auf dem neuesten Stand bleiben
  • Jemand externen den Park prüfen lassen
  • Unfälle anonymisiert melden: zum Beispiel mich anrufen oder den Inspektor / IAPA-Funktionär des Vertrauens.
  • Eine Accident/Incident Analyse durchführen (siehe Kasten)

Die meisten Unfälle kündigen sich an. Ein Beispiel: Die Teilnehmer/innen halten sich nicht immer an die Regeln. Die Regel ist: Erst schauen, ob die Zipline frei ist.

Ein Zwischenfall („Incident“) wäre: jemand startet ohne zu schauen, aber die Zipline ist zufällig frei.

Ein Beinaheunfall wäre: jemand startet tatsächlich zu früh, die Landezone ist noch besetzt, es kommt aber zu keiner Kollision, weil die Person rechtzeitig den Platz räumt.

Ein Unfall wäre: Es kommt zu einem Zusammenstoß, aber nichts passiert. Dies ist dann ein Unfall ohne Verletzung. Oder es gibt Blaue Flecken, dann ist es ein Unfall mit (leichter) Verletzung.

Irgendwann kommt es jedoch wie es kommen muss: die Person im Ziel rollt zurück, die zu früh startende Person fährt mit Höchsttempo in sie hinein und beide krachen mit maximal möglicher Geschwindigkeit Kopf gegen Kopf. Es kommt zu schweren Verletzungen oder sogar zum Tod.

Die Idee hinter diesem Schema ist, bereits bei kleinen Zwischenfällen zu reagieren und sie zu analysieren und nicht erst zu warten, bis der tödliche Unfall passiert.

 

Der Blitz kommt fast nie aus heiterem Himmel

Um Zwischenfälle besser registrieren zu können ist es daher sinnvoll:

  • den Park im Betrieb zu beobachten: Wo gibt es Zwischenfälle?
  • Trainer/innen zu schulen, in dem man von möglichen Zwischenfällen berichtet.
  • Zwischenfälle zu registrieren (Tagesberichtsblätter), zu analysieren und an den Verband zu schicken.
  • eine gute Fehlermeldekultur zu etablieren: Der Bericht selbst kleinster Vorkommnisse muss belohnt werden.

Folgende Alarmzeichen weisen auf eine schlechte Fehlermeldekultur hin:

  • Wenn keine Zwischenfälle berichtet/registriert werden. (Ein Zwischenfall ist, wenn etwas anders abläuft als geplant bzw. als es in den SOPs steht.
  • Wenn jemand einen Zwischenfall berichtet, wird nicht applaudiert, sondern kritisiert.

Unfälle sind sehr unangenehm. Um finanzielle Folgen zu vermeiden (= „den Gerichtsprozess nicht zu beinflussen“) werden oft wichtige Informationen zurück gehalten. 

Damit es erst gar nicht soweit kommt, plädiere ich hier: fangen wir mit den Beinaheunfällen an, unsere Welt zu einer idealen zu machen. Ein Beinaheunfall ist ein Geschenk: ein Warnruf, der zu einem Weckruf werden kann. Er ist folgenlos, braucht nicht peinlich zu sein. Es gibt keinen Grund ihn zu verschweigen.  

Infos und Kontakt:

Walter Siebert

Ramperstorffergasse 37

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